32. Nerissas Weg
Nerissas Gruppe zog weiter.
„Wohin gehen wir eigentlich?“, fragte Ardin.
„Zur Quelle dieses Bachs“, antwortete Nerissa und wusste, dass das wenig aussagte. Sie hatte keine Landkarte und keine Ahnung, ob sie auf ihrem Weg noch auf ein Dorf stoßen würden. Das Nahrungskonzentrat würde noch einige Tage reichen, und sie hatte keine Sorgen, danach zu verhungern. Im Wald konnte sie jederzeit etwas zu essen finden.
Jando animierte die Gruppe immer wieder, etwas zu singen. Das ließ die Zeit schneller vergehen und machte den Marsch leichter, aber wenn Nerissa in sein Gesicht sah, entdeckte sie den nur mühsam verborgenen Ausdruck von Sorgen, von Angst. Auch sie selbst war nicht frei davon, sie vermisste Engelbert, hatte Angst um ihn. Hinzu kam, dass sie unsicher war, ob es klug gewesen war, die Gruppe aufzuteilen. Vermutlich waren sie weiter oben sicherer vor Verfolgern, aber sie waren dort auch fern von jeder Möglichkeit, etwas über das Schicksal der anderen zu erfahren.
An Jando hatte sie einen erfahrenen Mitstreiter dabei, aber Finn und Ardin zeigten sich ihr immer mehr als Jammerlappen. Mit dem Tod seiner Marie war Ardins Motivation, ihnen zu helfen, auf die reine Selbsterhaltung zusammengeschrumpft, und Finns Verliebtheit in Narda verhieß auch nichts als Ärger.
Auf einer Lichtung machten sie Feuer, aßen den unvermeidlichen Brei, geschmacklich verbessert mit Nerissas Kräutern. Jando improvisierte eine Angel und setzte sich an den Bach. Ardin gesellte sich zu ihm.
„Wohin führt das alles?“, fragte er und meinte nicht den Weg.
„Ich kann dir das nicht erklären, aber es geht vor allem um das Mädchen, Narda. Sie ist der Schlüssel, durch den sich die Welt ändern kann, zum Besseren, aber auch zum Schlechten!“
„Und ihretwegen sterben Menschen? Meine Marie!“
„Es ist nicht Narda schuld und sie hat auch keine Wahl. Dass Marie getötet wurde, tut mir leid, wir hatten für euch eine andere Zukunft im Sinn. Aber die Mörder wollten Dich töten, nicht Marie und auch nicht Narda. Das Mädchen wollen sie lebend haben.“
„Ich verstehe das alles nicht!“, antwortete Ardin.
„Hast du dich mal gefragt, wieso ihr Mönche unten euch alle so ähnlich seid?“
„Das weiß ich! Die große Weisheit wählt die am besten geeigneten Frauen und Männer aus. So gewinnt sie das ideale Erbgut für den Nachwuchs. Deshalb sind sehr viele von uns miteinander verwandt.“
„Das sagt euch eure Gottheit, aber es stimmt nicht ganz“, behauptete Jando.
„Und du weißt mehr, als die große Weisheit?“, Ardin fragte in einem ironischen Ton.
„Nein, wir wissen aber mehr, als euch die große Weisheit verrät.“
„Was denn?“, fragte Ardin, immer noch auf spöttische Weise.
„Zum Beispiel, dass es schon seit hundert Jahren bei euch keine neuen Zeugungen mehr gegeben hat. Ihr stammt alle nur von ein paar Dutzend verschiedenen Erzeugern ab. Ihr seid Kopien, Klone nennen wir das!“
Jando hatte sich hinreißen lassen, mehr zu sagen, als er verraten wollte. Ardin versuchte, diese Behauptung zu verstehen und zu bewerten. Nach ein paar Minuten hob er einen Stein vom Ufer auf und warf ihn mit Schwung in den Fluss, brüllte dabei einen Fluch hinaus.
Der Gaukler versuchte, ihn zu beruhigen.
„Weißt du, es hat seinen Sinn, dass Menschen sich verlieben, dass Paare sich finden und Kinder zeugen. Nur deshalb ist jeder Mensch hier oben anders, nur deshalb kommt es auch vor, das besondere Menschen geboren werden, die die Welt besser verstehen, immer mehr lernen und die Welt verbessern wollen.“
Ardin zitterte, als er antwortete: „Und das seid ihr, die Gauklertruppe?“
„Es gibt viel mehr, die so sind. Aber einige wissen das und organisieren das Lernen und Verstehen. Das sind wir!“
„Aber so werden auch sehr dumme oder sehr schwache Menschen geboren“, warf Ardin ein.
„Das stimmt, ja. Manchmal kommen hier oben Kinder zur Welt, die früh sterben oder mehr Hilfe brauchen. Manche können nur ganz einfache Arbeiten verrichten. Die große Weisheit wollte das wohl ändern, aber wenn es nur noch einheitliche Menschen gibt, dann setzen sich auf die Dauer die Schwächsten durch. Das Erbmaterial muss öfter aufgefrischt werden, man kann Menschen nicht wie Schafe züchten!“
„Deshalb wollen sie Narda!“, sagte Ardin und Jando biss sich auf die Lippen.
„Es ist noch ein bisschen anders, als du jetzt denkst“, antwortete Jando rätselhaft.
Etwas zog an der Leine, ein Fisch hatte angebissen. Jando zog ihn an Land und erschlug ihn. In den nächsten Stunden gingen ihm noch drei Weitere an den Haken. Sie kehrten zum Lagerfeuer zurück, nahmen die Fische aus und brieten sie auf einem heißen Stein im Feuer, eine willkommene Ergänzung zum künstlichen Futter.
Am Abend nahm sich Nerissa Ardins an, beruhigte ihn nicht nur mit einem Aufguss von Baldrian, sondern auch mit ihren Worten. In dieser Nacht schlief er, zum ersten Mal seit Maries Tod, mit einem Glücksgefühl ein.
Nach dem Aufwachen erklärte die Heilerin, dass an diesem Ort ein richtiges Lager aufgebaut werden sollte. Sie hatte dafür sehr genaue Pläne und für jede und jeden eine Aufgabe. Aus den Zeltplanen, Ästen und Bäumen war am Ende des Tages ein Dach und Windschutz entstanden. Sie bestreuten die Konstruktion mit Zweigen und Blättern, um sie zu tarnen.
Am Abend fragte Ardin Finn aus. Er wollte von ihm wissen, was er von der Antwortmaschine alles erfahren hatte. Der Junge strengte sich sichtlich an, das Erlebte ins Gedächtnis zu rufen, aber sein Traumerlebnis verfälschte oft die Erinnerungen. Erst als Finn die Tränen kamen, stellte Ardin die Fragerei ein und lenkte das Gespräch in unkritische Bereiche.
Jando und Nerissa standen auf und sahen nach dem Feuer.
„Wie lange wollen wir hier warten?“, fragte der Gaukler.
Nerissa stocherte das Feuer an und sagte dann leise, „wir sind hier erst mal sicher, denke ich. Wir sollten hier warten, bis die anderen uns finden.“
„Aber was ist, wenn uns die Soldaten vorher finden?“, fragte Jando nach und sah ihr in die Augen.
„Ich glaube nicht, dass die uns noch suchen“, antwortete sie und wandte sich von ihm ab.
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